Jaeggi .:. Harlekin

Jäggi, Willy [Hrsg.], Harlekin. Bilderbuch für Spassmacher. Basel: Basilius Presse, 1959. 157 Seiten mit Abbildungen. Pappband (gebunden) mit Schutzumschlag. 4to.
* Zweiter Druck der Basilius-Presse. - Bildtexte und Nachwort von Siegfried Melchinger. Grock, Charlie Chaplin, Marcel Marceau, Valentin u.v.a. - Schutzumschlag ausgeleiert, knitterig und mit Rissen.

Jaeggi Willy Hrsg | Theater | Clown | Hanswurst | Harlekin | Zirkus | Spassmacher | Pierrot


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Vorwort
Als Johann Christoph Gottsched, der aufgeklärte Theaterpapst, den derben Possenreißer Hanswurst für die Bühne zur persona non grata erklärte und im Gefolge die Neuberin, Theaterdirektorin zu Leipzig, den Hanswurst im Oktober 1737 in aller Offentlichkeit verbrennen ließ, verlor das deutsche Theater durch diese größte Harlekinade - wie Lessing es nannte - eine seiner farbigsten Figuren; und daran änderte auch August Wilhelm Schlegel mit seiner ironischen Bemerkung nichts, daß der Hanswurst trotz gelegentlicher Plattheiten immer noch mehr Verstand im kleinen Finger gehabt habe als Gottsched in seinem ganzen Leib.
Harnwurst trieb seine Späße zwar vergnügt weiter, aber abseits vom Theater: auf dem Jahrmarkt, in der Vorstadt, während der Fastnachtszeit und später als Clown im Zirkus. Wurde er im Theater geduldet, so nur unter anderem Namen und in kultivierter Form. Im übrigen aber hatte Gottscheds Bekenntnis zum homo sapiens das gesamte deutschsprachige Dramenschaffen bis ins zwanzigste Jahrhundert beeinflußt. Der Spaßmacher spielte im deutschen Drama eine untergeordnete Rolle, und wo er auftrat - der homo ludens - war er selber zum homo sapiens geworden, nicht zuletzt in Goethes «Faust», wo die lustige Person im Vorspiel auf dem Theater dem Direktor zwar rät:
Laßt Phantasie mit allen ihren Chören,
Vernunft, Verstand,
Empfindung, Leidenschaft,
Doch, merkt euch wohl,
nicht ohne Narrheit hören!

Wer aber wagt die ausgelassenen Jahrmarktspossen des Hanswurst mit Goethes erhabener Narretei zu vergleichen? Und doch ist sein Mephisto ein Nachfahre des ungehobelten Teufels, der als Urform des Harlekin im mittelalterlichen Mysterienspiel aufzutreten pflegte. Hellequin nannten die Franzosen jenen tollen Teufel, dessen nächtlicher Spuk den Schlaf der Abergläubischen störte. Ihn gaben sie später an die Italiener weiter. «Alichino» taufte Dante in seiner «Göttlichen Komödie» einen der wildesten Teufel. Die größten Triumphe aber feierte Arlecchino im 18. Jahrhundert in der Commedia dell'arte, und eine der herrlichsten Rollen schrieb ihm Goldoni im «Diener zweier Herren». Nicht von ungefähr versuchte Giorgio Strehler, der Regisseur des Piccolo Teatro in Mailand, der italienischen Stegreifkomödie gerade mit diesem Stück zu neuem Ansehen zu verhelfen. Er verdankte aber den Erfolg seiner Inszenierung, mit der er um die halbe Welt reiste, nicht zuletzt der neu erwachten Aufgeschlossenheit des heutigen Publikums für die artistischen Späße des Harlekin. Hanswurst ist wieder salonfähig geworden - auch in Deutschland. Und das ist kein Zufall. Seine Wiederkehr hat sich seit Jahrzehnten auf der ganzen Linie vorbereitet.
Der Clown, den der Gebildete während zwei Jahrhunderten mit Verachtung strafte, der zusammen mit Jongleuren und Trapezkünstlern, mit Seiltänzern und dressierten Tieren als dummer August sein Leben im Zirkus fristen mußte, gelangte durch Grock plötzlich zu Weltruhm. Er war nicht mehr bloß der Lückenbüßer, der die Pausen zwischen zwei Nummern mit seinen «albernen Possen» auszufüllen hatte, sondern der gefeierte Künstler, der Tausende von Menschen mit einem abendfüllenden Programm begeisterte. Zur gleichen Zeit trat Harlekin seinen Siegeszug auf der Leinwand an: Charlie Chaplin! Seit den frühen Stummfilmen, in denen er mit Melone und Stöckchen über die flimmernde Leinwand stolperte, ist die Reihe der verfilmten Spaßmacher nicht mehr abgebrochen. Im italienischen Volkskomiker Toto, im breit lachenden Südfranzosen Femandel und im unwiderstehlichen Amerikaner Danny Kaye erlebt der homo ludens seine jüngsten Erfolge. Und wer denkt nicht an die vielen Filme, in denen ein Künstler sich eines der historischen Harlekin-Gewänder übergezogen hat - an die Magnani in «Carozzo d'oro» oder die Masina in «La strada», an Jean-Louis Barrault als Pierrot in «Les enfants du paradis» oder an Frank Sinatra mit seinen melancholischen Augen im Gewand des dummen August.

Wie hätte der Harlekin spurlos an der bildenden Kunst vorbeigehen können? Immer wieder hat seine Gestalt die Maler des 20. Jahrhunderts inspiriert. Wir können wohl kaum eine namhafte Galerie moderner Kunst durchwandern, ohne da und dort seinem Abbild zu begegnen. Picassos klassischer Harlekin und der bizarre Clown von Paul Klee stehen nur als Beispiele für viele. Auch das Theater konnte dem Hanswurst den Auftritt nun nicht mehr verwehren. Es hat dem Spaßmacher wieder Tür und Tor geöffnet, nicht nur den Rüpeln und Narren in Shakespeares Komödien, nicht nur dem Teufel aus dem Volkstheater vor der Salzburger Barockfassade und dem «kultivierten» Harlekin unter anderem Namen, Sganarelle und Leporello, Papageno und Bajazzo. In der modernen Oper wird der Hanswurst wieder reichlich beschäftigt und im zeitgenössischen Ballett tanzt der Harlekin in den verschiedensten Kostümen mit. Die Dramatiker haben eine alte Wahrheit neu entdeckt, daß nämlich das Wort nur ein Element der theatralischen Aussage ist. «Das Theater ist ein lebender Vorgang, den man vor allem auch mit den Augen sehen kann. Das Theater ist ebensosehr sichtbar wie hörbar», stellt Eugène Ionesco in seinen «ganz einfachen Gedanken über das Theater» fest. Mit ihm erschließen auch andere dem Darsteller wieder die Möglichkeit des freien Spiels und verhelfen so dem homo ludens zu seinem alten Recht. Was sind die beiden Vagabunden in Becketts «Warten auf Godot» letztlich anderes als zwei Clowns?

An dieser Stelle ist nun auch der Name dessen fällig, der das Theater konsequent zur Urform zurückgeführt hat, auf die Pantomime: Marcel Marceau! Weil er auf jedes Wort verzichtet und nur mit Geste und Mimik spielt, ist sein Bip eine der wenigen zeitlosen Gestalten, die unser Jahrhundert hervorgebracht hat. Bip und Marceau aber sind eins; darin liegt die Große und Tragik dieser Kunst. Wird man dereinst den einen zu Grabe tragen, wird auch der andere nur noch in unserer Erinnerung weiterleben können. Gerade darum aber ist Marcel Marceau vielleicht der reinste und edelste Spaßmacher unserer Tage.

Die Spaßmacher sind allerorts am Werk. Man ist versucht von einer Renaissance des homo ludens zu sprechen. Erstaunlich nur, daß ihm in jüngster Zeit kein Buch gewidmet worden ist. Es gibt wohl Publikationen über Chaplin und Marceau, über Pallenberg und Valentin, Grock und wie sie alle heißen. Nicht aber ist unseres Wissens bisher der Versuch gemacht worden, das Thema in seiner ganzen Breite aufzugreifen. Vielleicht deshalb, weil man nicht weiß, wo anfangen und wo aufhören. Eine erschöpfende Monographie würde mit dem zugehörigen Bildmaterial wohl mehrere Bände füllen. Auch uns blieb daher nur der Ausweg, die Vielfalt in einer beschränkten Auswahl anzudeuten. Daß uns dabei Siegfried Melchinger zur Seite stand, war uns besonders wertvoll. Wir sind an ihn herangetreten, weil er in seinen Veröffentlichungen immer wieder auf die Renaissance des Harlekin aufmerksam gemacht hat. Wir möchten nicht versäumen, ihm an dieser Stelle für seine wertvollen Ratschläge zu danken, vor allem aber für seine Bereitwilligkeit, das Buch durch Bildtexte und durch ein Nachwort zu bereichern.

Wir sind uns wohl bewußt, daß viele Gesichter fehlen, und daß mancher Name und mancher Titel vergeblich gesucht werden wird. Unser Bilderbuch - eine Anthologie der Spaßmacher - möchte den Beschauer und den Leser in erster Linie anregen, das Thema weiter zu verfolgen und das vorliegende Bildmaterial aus der persönlichen Erinnerung zu ergänzen.
September 1958 WILLY JÄGGI


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