Kiermeier / Vogel .:. Das Alphabet

Kiermeier-Debre, Joseph, Vogel, Fritz Franz, Das Alphabet. Die Bildwelt der Buchstaben von A bis Z. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag, 1995. 256 Seiten mit Abbildungen, Literaturverzeichnis und Register. Leinen im Schuber. 4to. 360 x 284 mm.
* Schuber und Einband mit schwachen Gebrauchsspuren.

Kiermeier Debre Joseph Vogel Fritz Franz | Bibliophilie Typographie | Schrift | Typographie | Kalligraphie | Alphabet | Druckschrift | Schriftkunst


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EINLEITUNG
Vielerlei mythologisches Gespinst rankt sich um die Ursprünge der Buchstaben und des Alphabets. Die Moiren, die drei Schicksalsgöttinnen, entsprungen aus der Paarung des Erebos, der Finsternis der Unterwelt, mit seiner Schwester, der Nacht, sollen die fünf Selbstlaute und die Mitlaute B und T geschaffen haben. Palamedes, der Sohn des Nauplios, Enkel des Poseidon, Schüler des Chiron und Erfinder und Lehrer aller zivilisatorischen Künste, führte die übrigen elf Konsonanten ein. Hermes formte die Laute als stilisierte Keile nach den Flugformationen der Kraniche zu Buchstaben. Sein System gelangte von Griechenland nach Ägypten. Hier hieß der Schöpfer der Buchstaben Thoth, und er galt als Gott der Schreibkunst. Auf Umwegen brachte Kadmos, der Sohn eines phönikischen Königs, die Schrift wieder nach Griechenland zurück, wo aus Thoth, dem mythologischen Äquivalent des Hermes, Hermes Trismegistos wurde. Ihn erachtete man als Gott der Schrift und der Gelehrsamkeit, als einen Gesetzgeber, dessen Weisheit in geheimnisvoll verschlossenen Büchern als sogenannte hermetische Literatur niedergelegt war. Euandros von Arkadien wiederum führte die Schrift in Italien ein, nachdem seine Mutter Carmenta die fünfzehn Buchstaben des lateinischen Alphabets geschaffen hatte.
Schöner als diese Mythen scheint uns das sprachliche Bild von den Buchstaben als den Töchtern des Gedächtnisses, um die Ursprünge von Schrift und Alphabet zu umkreisen. Ihre Personifizierung finden Erinnerung und Gedächtnis in der griechischen Göttin Mnemosyne, einer Tochter des Uranos, dem Sohn der Mutter Erde. In der Mythologie ist sie jedoch nicht die Mutter der Buchstaben, sondern der neun Musen, die Zeus mit ihr gezeugt hatte. Aber in einem den Mythos erweiternden Bild dürfen die Buchstaben als die Vehikel unseres individuellen und kollektiven Gedächtnisses, als die Hilfen in der Kunst des Behaltens, der Mnemotechnik, sehr wohl der Mnemosyne als Kinder, besser noch als ihre Enkelinnen untergeschoben werden, dürfen sie als jungfraugeborene Töchter der Musen, der Göttinnen des Dichtergesangs wie überhaupt aller höheren Geistigkeit, gedacht werden. Als solche sind sie weiblich (auch wenn das Deutsche es anders behauptet), jungfräulich, göttlich und überaus schön. Sie behaupten ihre Schönheit sowohl in Nacktheit als auch in reichen Kleidern. Dem Gesang der Dichter geben sie, wenn sie nackt gehen, reinen Laut; sie lassen sein Lied als Gedicht sichtbar werden, wenn sie sich schön kleiden. Der Literatur, ihrer nackten Schönheit, sind viele Bücher gewidmet, den Kleidern der Texte entschieden weniger. Dieses Buch gehört, auch wenn wir die Musentöchter gelegentlich nackt lieben, der Schönheit ihrer prächtigen Kleider, in denen sie den von den Musen inspirierten Gesang der Dichter, vulgo den Text, dem Auge offenbaren. Selbstherrlichkeit und Eitelkeit sind dabei nicht aus, sondern eingeschlossen. Jenseits der Faszination aber, die die Bildwelt der Buchstaben und des Alphabets besitzt - sie verdankt im besonderen Falle ihre Anregung dem 1811 erschienenen Meisterwerk Jean Pauls, dem Roman »Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel« , waren es drei Punkte, die die Gestaltung dieses Buches im wesentlichen bestimmten. Schriftenkataloge sind phantastisch schöne, aber schrecklich stupide Bücher.An maximal fünf prosaischen Sätzen wird dort tausendfache formalästhetische Verschwendung als Typographie geübt. Einige unattraktive und eigenschaftslose Mannequins rennen mit den herrlichsten Modellen unentwegt auf die immer gleiche Weise den Laufsteg entlang und demonstrieren, daß Modenschauen ziemlich geistlos sind. Den Reichtum, so dachten wir, könnten auch etwas weniger spröde Modelle spazierenführen, sprich, er könnte sich in Sätzen ergießen, die ihn selbst,Typographie, beziehungsweise ein Drittes, ihm Verwandtes, die Buchstaben, gar das Alphabet selbst zum Inhalt haben. So entstand ein Schriftmusterkatalog etwas anderer Art, der den einzigen poetischen und schönen Satz solcher Kataloge, den Zaubersatz »The quick brown fox jumps over the lazy dog« wieder ein wenig ins semantische Lot bringt, der den Text von seinem eigenen materiellen Reichtum sprechen läßt. Dieser Schriftmusterkatalog gibt unendlich schönen Formen die Würde des Inhalts wieder.
Bücher über die Welt der Buchstaben im Bild, über Zieralphabete, Schreibschulen und Schreibmeister eröffnen einen narkotisierenden und verrückt machenden Blick in einen Kosmos, der unendlich und doch recht begrenzt ist; sie führen in unzählige Labyrinthe, die aus den immer gleichen platonischen Versatzstücken der 26 Buchstaben gebaut sind. Der Blick kann einen verrückt machen, und gleichwohl feiern diese Bücher selbst nur im seltensten Fall diesen Insinn der Buchstabenformen, weil sie deren Schönheit, die Ästhetik der Sache, die Buchstaben als Bilder, regelmäßig unangemessen präsentieren. Oft wird dann nicht einmal mehr ihr vielstimmiger Text jenseits des Auges geboten, sondern Triumph der Okonomie - diese Bücher werden zumeist nur noch für den handwerklichen Bedarf gemacht. Alte Bücher waren selten farbig. Eine Rubrizierung im Titelblatt, eine Farbakzentuierung der Initialbuchstaben der Kapitelanfänge waren Schminke genug. Gegen die bunte Hochglanzgegenwart erscheint das als Armut. Aber sie besaß und besitzt einen Glanz von innen. Ihn will dieses Buch ansatzweise vorführen, indem es sich, ohne seinerseits ein Anwenderbuch sein zu wollen, auf zwei Farben beschränkt: Schwarz und Rot. Schließlich ist unter der Voraussetzung dieser drei Gestaltungskriterien ein Buch entstanden, das - was beim Alphabet eigentlich naheliegen sollte - selbst ein Alphabetbuch darstellt, eine Fibel für große Kinder, vielleicht eine Bibel für Fibelianer. Im Gegensatz zu allen anderen Alphabetbüchern nimmt es das Alphabet beim Wort, d. h. spricht nicht nur darüber, sondern es wendet es auf sich selbst an. Die nach der Willkür der alphabetischen Ordnung angelegte Fibel - und so jede Fibel - ist nichts anderes als ein Lexikon, eine kleine Enzyklopädie. Ein Lexikon muß nicht von vom nach hinten gelesen werden; man ist in ihm an jeder Stelle richtig im Text. Ist man des Lesens müde, entläßt dieses Lexikon jedoch seinen Leser mühelos in die Abspannungen eines Bilderbuchs, ohne ihn gleich der Trivialität der Bilder jenseits der Schrift preiszugeben, die heute so beliebt ist. In jedem Augenblick und an jeder Stelle, wo das Auge des Lesers ins Bilderbuch abschweift, ist es auf paradoxe Weise wieder im Text, da alle Bilder Text sind. Der Begriff »Bildwörterbuch« gibt von diesem angenehmen Umstand beredt Zeugnis. Bei jedem Stichwort ist ein Benutzer eines Bildwörterbuchs sofort im Bild, bei diesem spezifischen Bildwörterbuch aber ist er; gerade wenn er im Bild ist, auf einer sozusagen höheren, ästhetischeren Stufe des Textes und vice versa. Da aller Text als Typographie auch Bild ist, ist der Leser stets auch ein Betrachter von Bildern. Wenn es Grundtexte unserer Kultur gibt, dann sind die Bilder dieses Buches geradezu die Grundtexte schlechthin. Ein Lexikon, eine Enzyklopädie, ein Bildwörterbuch ist nicht etwas für den Tag, sondern, wie die Werbung gerne suggeriert, eine Anschaffung fürs Leben, für die Haus- und Handbibliothek. Ein Kulturfahrplan durch den Grundtext aller Grundtexte, durchs Alphabet, ist eine solche Anschaffung. Obwohl in diesem Sinne ein Fachbuch, ist es doch ein Fachbuch für alle, denn als Reisende in einer alphabetischen Welt sind wir alle Fachleute, ob als ABCSchütze oder schon als versierter Alphabet. Selbst dem Analphabeten der vor- und nachalphabetischen Epoche kann es noch als Bilderbuch dienen, sind doch die Buchstaben hier sehr oft auch Piktogramme jenseits der Sprache. Den Bildern dieses Buches darf sich der Alphabet, der Fachmann, ohne schlechtes Gewissen anvertrauen: Seine Bilderfluten sind nicht jenseits der Schrift, sondern sie sind sogar Schriftfluten, seine Texte aber behaupten in den vielfachen typographischen Verkleidungen auch einen graphischen Status. Wechselseitig illustriert und beschreibt der Doppelstatus der Blätter ein leicht variiertes Wort des Dichters Joseph Weinheber (18921945): Das Wort Alphabet, zum erstenmal in die Welt gedacht, gesprochen und geschrieben, ist das Gedicht des Alphabets. Da jedes Blatt und jeder Buchstabe unserer Fibel dieses und nur dieses Wort denkt und in jeweils individueller Intonation ausspricht, indem sie es niederschreibt, so ist die Fibel, die ein Lexikon ist, zu guter Letzt auch eine Gedichtanthologie.Viele glauben sogar, daß das Alphabet zu buchstabieren soviel heißt wie ein Gebet zu sprechen, weil es ja der Universaltext schlechthin ist, der alle Gebete und auch den Namen Gottes enthält; verhält es sich so, dann ist die Fibel, die ein Lexikon ist, das sich als eine Gedichtsammlung entpuppt, auch ein Gebetbuch. Seine Gedichte, die das Lob des Alphabets aussprechen, sind Gotteslob, in das nur durch den Druckfehlerteufel gelegentlich ein falscher Zungenschlag kommt. Abschweifungen im Geiste, unheilige Gedanken, die alphabetisches Fleisch, die Bild werden, sind die Folge. Aber auch die gehören zur Welt, und Gott wird sie verzeihen.- Lasset uns also lesen! Alpha und Omega! Amen!


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